Neues aus der Mittnachtstraße #1

Rudkoffsky_Mittnachtstrasse_CoverKnapp zwei Monate ist mein dritter Roman Mittnachtstraße nun schon draußen – und ich könnte mit der bislang durchweg positiven Resonanz kaum zufriedener sein. Aber obwohl sich meine diesjährige Lesereise nach sieben schönen Terminen in ganz Deutschland so langsam dem Ende neigt, habe ich das Gefühl, dass es eigentlich gerade erst losgeht. Da stehen nämlich noch so einige Highlights an: Am Mittwoch, dem 16.11., lese und diskutiere ich beim Themenabend Brüchige Männlichkeit gemeinsam mit Heinz Helle („Wellen“) und Joachim Zelter („Professor Lear“) im Literaturhaus Stuttgart, moderiert von der fabelhaften Carolin Callies. Im Dezember nehme ich die Mittnachtstraße noch einmal nach Potsdam zur Lesereihe „Lecker Lesen“ mit, ehe dann im Januar ein ganz besonderer Abend folgt: Nachdem ich Mareike Fallwickl im Oktober bei ihrer Lesung aus „Die Wut die bleibt“ vor vollem Haus in der Stadtbibliothek Stuttgart moderieren durfte, drehen wir den Spieß nun für ein Rückspiel am 26. Januar um – und Mareike reist extra an, um meine erste Stuttgarter Sololesung aus Mittnachtstraße zu moderieren! Warum das so gut passt? Am besten ihr lest einfach, was sie Tolles über meinen Roman geschrieben hat!

Überhaupt wurde in den vergangenen Monaten schon so einiges Schönes über Mittnachtstraße geschrieben. Neben vielen positiven Stimmen auf Instagram wurde der Roman kürzlich auch sehr wohlwollend im Büchermarkt auf Deutschlandfunk besprochen oder im Stadtmagazin LIFT von Klett-Cotta-Autor Kai Wieland vorgestellt. Über ein Lob freue ich mich aber ganz besonders: „Einer meiner liebsten Romane in diesem Jahr“, schreibt nämlich der Hamburger Buchhändler Frank Menden über Mittnachtstraße – und das will angesichts seines diesjährigen Lesepensums als Jurymitglied für den Deutschen Buchpreis etwas heißen! Nur den Konjunktiv im Hinterkopf lasse ich diesbezüglich vielleicht besser bleiben…

Zugegeben: Das ist eine ganze Menge Euphorie für einen Beitrag – eine Sache wäre da aber noch, über die ich mich in dieser Woche wirklich gefreut habe: Jana Gäng hat über mich im Kulturressort der Stuttgarter Zeitung nämlich ein sehr schönes und treffendes Vor-Ort-Porträt an den Romanschauplätzen im Stuttgarter Norden geschrieben. Vielen Dank dafür!

Unterwegs mit und ab der Mittnachtstraße

Photography

„Einige zentrale Schauplätze dieses Romans sind real oder an reale Orte in Stuttgart angelehnt“, heißt es im Vorfeld meines Romans Mittnachtstraße. Gemeint sind dabei vor allem ein Kleingartenverein beim Stuttgarter Nordbahnhof sowie das preisgekrönte Urban Gardening Projekt Stadtacker und die Container City in dessen unmittelbarer Nachbarschaft. Wo im Roman die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verlaufen und warum ich mich bei meiner Geschichte für dieses Setting entschieden habe – diese Fragen sollen, moderiert von der Stuttgarter Kulturvermittlerin Sara Dahme, am Samstag im Zentrum eines literarischen Stadtteilspaziergangs entlang der Romanschauplätze stehen. Nach mehreren kurzen Lesestationen und einer längeren beim Stadtacker wird es zum Abschluss in der Container City die Möglichkeit geben, bei einem Getränk miteinander ins Gespräch zu kommen. Treffpunkt ist die U-Bahn-Haltestelle Mittnachtstraße um 16 Uhr – Anmeldungen unter sven.hassel@voland-quist.de. Bei schlechtem Wetter findet die Lesung alternativ beim Kultur Kiosk im Züblin Parkhaus statt.

Warmlaufen darf ich mich allerdings schon einen Tag früher. Dann bin ich nämlich auf Einladung von Carolin Callies zu Gast bei der schönen Lesereihe Flaneure und Flaneusen in Ladenburg bei Mannheim. Nächste Woche geht es dann schon – oder endlich! – zur Frankfurter Buchmesse, wo ich am Mittwoch um 14 Uhr beim Literaturbahnhof aus Mittnachtstraße lesen darf. Eine Woche später, am 26.10., stelle ich meinen Roman dann beim Literaturherbst Krumbach vor, ehe ich mich nach einer kurzen Pause auf meine erste Lesung im Literaturhaus Stuttgart freuen darf: Gemeinsam mit den Autoren Heinz Helle und Joachim Zelter lese ich am 16. November beim Themenabend Brüchige Männlichkeit aus Mittnachtstraße und diskutiere im Anschluss über die Themen unserer Romane.

„Mittnachtstraße“ bei SWR2-Lesezeichen

IMG_5971Was für eine tolle erste Vorstellung von Mittnachtstraße! Für die Sendung Lesezeichen traf mich SWR2-Redakteurin Silke Arning zum Interview an den Schauplätzen des Romans beim Stuttgarter Nordbahnhof. Der Stuttgarter Norden ist ein besonderer Ort, heißt es in ihrem sehr treffenden Beschreibungstext zum Radiobeitrag. Auf engstem Raum treffen hier verschiedene Welten aufeinander: Kleingartenanlage und wildes Urban Gardening, Container-Dorf der freien Kunstszene und eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart verortet der Stuttgarter Autor, Literaturblogger und Literaturstipendiat des Landes Baden-Württemberg Frank Rudkoffsky seinen neuen Roman „Mittnachtstraße“. Mit scharfem und unerbittlichem Blick seziert er Befindlichkeiten und Generationenkonflikte.

In ihrem – wie ich finde, wirklich gelungenen – Beitrag schildert Silke Arning ihre Eindrücke vom Setting des Romans und befragt mich zu dessen zentralen Motiven. Das Fazit ihrer Buchvorstellung freut mich natürlich ganz besonders: „Mittnachtstraße ist ein beeindruckender Roman […]. Als intellektueller Autor lotet Frank Rudkoffsky die Untiefen seiner Figuren aus. Für die Männer in dieser Geschichte gibt es kein Entkommen.“

Hier könnt ihr euch den ganzen Beitrag anhören!

Endstation: Mittnachtstraße

Eigentlich ging es diesmal ja sehr viel schneller als sonst: Nach ziemlich genau einem Jahr zwischen Lockdowns und Schreibmarathons sowie einer ungefähr genauso langen Konzeptphase habe ich Ende Februar den letzten Punkt unter meinen dritten Roman Mittnachtstraße gesetzt. Trotzdem konnte ich kaum erwarten, dass ihr das Buch endlich lesen könnt und ich damit auf die Bühne darf. Und nun ist es tatsächlich soweit: Die nächste Woche dürfte mit der Buchpremiere in Berlin am Mittwoch, der Veröffentlichung bei Voland & Quist am Donnerstag und der Hamburg-Lesung am Freitag ein einziger Endorphinrausch werden – zumal „Mittnachtstraße“ am Samstag dann auch gleich bei Lesezeichen auf SWR2 vorgestellt wird!

Ich hoffe, ich darf viele von euch bei meinen ersten Lesungen aus dem Roman sehen – und wünsche euch viel Freude beim Lesen meines so schön gewordenen Buches!

„Mittnachtstraße“ erscheint in einem Monat!

haltestelle mittnachtstrasseSo langsam bin ich aufgeregt: In etwas mehr als einem Monat erscheint bei Voland & Quist mein dritter Roman Mittnachtstraße – und tatsächlich war ich noch nie so stolz auf ein Buch, das ich geschrieben habe.

Es geht um so vieles in diesem Roman. Es geht um Söhne und Väter und darum, wie schwer es ist, Prägungen loszuwerden, die tiefer sitzen, als uns das lieb ist. Darum, dass wir alle vermeiden wollen, die Fehler unserer Eltern zu wiederholen, ihnen, je älter wir werden, aber trotzdem immer ähnlicher werden. Es geht um die generationenübergreifenden Verheerungen, die toxische und fragile Männlichkeit anrichten, um alte weiße Männer und einen Kleingartenverein im Generationenkonflikt, um Demenz und die Frage, ob eine Bürde auch zu groß sein kann, um sie anzunehmen. Es geht um einen Familienvater, der sich selbst für einen guten Menschen hielt, einen besseren als seinen Vater – und der von seinem eigenen Sohn als Heuchler entlarvt wird. Es geht um einen Mann, der sich so tief in Schuld verstrickt, dass er sich vor seiner Familie versteckt, und um seinen zweifelhaften Versuch, sich als „Weißer Retter“ wieder reinzuwaschen. Es geht um die Frage, was einen guten Menschen, einen guten Mann ausmacht – und was das mit der sozialen Frage zu tun hat. Es geht um eine heimliche Liebe zu Büchern und darum, was wir alles tun, um anerkannt zu werden. Es geht um den Nordbahnhof in Stuttgart zwischen altem Eisenbahnerviertel und Subkultur. Es geht um Depressionen und um Alkohol. Es geht um eine Tantramassage mit unerwartetem Ausgang. Es geht um die Klimakrise und Gratismut. Es geht um eine Schnecke, einen Hund und einen Vogel und die Hoffnung, dass zumindest eines dieser Tiere gerettet werden kann. Es geht, weil der Roman 2020 spielt, (am Rande) auch um die Pandemie. Es gibt zum ersten Mal in einem meiner Bücher einen echten Antagonisten, aber auch die schmerzhafte Erkenntnis, sich in Wahrheit selbst der größte Feind zu sein.

Ich habe beim Schreiben mancher Szenen herzhaft gelacht, bei anderen aber auch zum ersten Mal ernsthaft weinen müssen. Genau darum ich bin wirklich sehr gespannt, was mein Roman Mittnachtstraße mit euch machen wird. Und zwar ab dem 15. September!

Mittnachtstraße: Erste Termine und Leseprobe

Noch ist es ein bisschen hin, bis mein dritter Roman Mittnachtstraße am 15. September bei Voland & Quist erscheint – vorbestellen könnt ihr ihn aber schon jetzt! Ein Grund mehr zur Vorfreude auf den Herbst: Auch die ersten Lesungstermine stehen inzwischen fest. Premiere feiert der Roman am 14.9. in Berlin, zwei Tage später darf ich zum ersten Mal (und endlich) in Hamburg lesen – für die Veranstaltung im Kulturschloss Wandsbek gibt es sogar schon Tickets. So richtig voll wird’s dann im Oktober: Nach der Stuttgart-Premiere im Literaturhaus am 4.10. darf ich einen Tag später als kleine Zwischenstation die Rollen tauschen und in der Stadtbibliothek Stuttgart die Lesung von Mareike Fallwickl aus Die Wut, die bleibt moderieren, ehe ich am 6.10. in der Buchhandlung Sedlmair in Georgsmarienhütte aus Mittnachtstraße lese. Etwas Besonderes wird sicher, was wir am 15. Oktober in Stuttgart vorhaben: Moderiert von der Kulturvermittlerin Sara Dahme, plane ich einen Spaziergang mit Lesestationen an realen Handlungsorten des Romans – von der Haltestelle Mittnachtstraße beim Nordbahnhof geht’s weiter zu einer Eisenbahnerkneipe und anschließend in Richtung Kleingartenverein, Stadtacker und Container City. Details folgen bald! Ein paar Tage später geht’s dann auch schon mit der Frankfurter Buchmesse los – und für die kann ich zumindest schon mal einen Termin nennen: Am Mittwoch, dem 19.10. lese ich um 15 Uhr beim LiteraturBahnhof Frankfurt. Und kaum habe ich mich einigermaßen vom Messetrubel erholt, geht es auch schon weiter: Am 26.10. stelle ich Mittnachtstraße beim Literaturherbst Krumbach vor.

Alle bisher bestätigten und kommenden Lesungen findet ihr bei meinen Terminen und natürlich auch auf der Seite von Voland & Quist. Dort gibt’s mittlerweile auch die ersten beiden Kapitel des Romans als Leseprobe – die sorgt hoffentlich dafür, dass nicht nur meine Vorfreude auf den Herbst groß ist!

Retten, was zu retten ist. Über „Erschütterung“ von Percival Everett

everett_erschütterungIn den USA, Frankreich und Italien ist Percival Everett längst Kult, hierzulande gilt er noch als Geheimtipp. Zeit, das endlich zu ändern: In seinem wohl spannendsten und bewegendsten Roman Erschütterung erzählt der Autor von einer Verzweiflungstat. Weil er seine Tochter nicht vor ihrer unheilbaren Krankheit bewahren kann, entschließt sich ein Vater stattdessen zu einer wahnwitzigen Rettungsmission nahe der mexikanischen Grenze.

Zach Wells ist niemand, dem man eine Heldentat zutraut. Schließlich ist der Schwarze Paläontologieprofessor nicht gerade ein netter Mensch. Gegenüber Studierenden und KollegInnen ist er zumeist so schonungslos ehrlich und ironisch distanziert, dass es an Schroffheit grenzt. Auch sich selbst betrachtet er bloß mit selbstgerechter, fast spöttischer Abgeklärtheit. Echtes Engagement für andere, gar Herzlichkeit? Fehlanzeige. Mit den Fossilienfunden aus der abgeschiedenen Höhle, für die er als Experte gilt, scheint er sich wohler zu fühlen als in der Gegenwart lebender Menschen.

Mit einer Ausnahme: Zuhause bei seiner zwölfjährigen Tochter Sarah ist Zach nämlich ein anderer. Die Liebe zu ihr macht einen besseren Menschen aus ihm – und er weiß das. Im Gegensatz zur von Alltag und Entfremdung ermatteten Ehe mit seiner Frau Meg ist die Beziehung zwischen Sarah und ihm von spielerischer Leichtigkeit geprägt. Ob während ihrer regelmäßigen Schachpartien, beim Wandern oder am Esstisch, ständig überbieten die beiden einander mit schlagfertigen Kommentaren oder Insiderwitzen, bei denen Sarahs Mutter außen vor bleibt. Zachs Liebe zu ihr ist so bedingungslos wie aufrichtig, allein sie ist es, die ihm das Leben überhaupt lebenswert erscheinen lässt. Daher ist es auch kein Wunder, dass Zach es als Erster bemerkt: Irgendetwas stimmt mit Sarah nicht. Am Anfang steht ein ungewohnt fahrlässiger Fehler beim Schach, am Ende eine Diagnose, die Zach zutiefst erschüttert. Auf der Suche nach der Ursache für Sarahs rätselhafte Sehstörungen wird bei ihr wird das Batten-Syndrom diagnostiziert – eine unheilbare Krankheit, die für die Zwölfjährige nicht nur baldige Demenz, sondern auch einen frühen Tod bedeutet.

Der erste zweier Wendepunkte im Roman

Es ist Sarahs Diagnose, die den ersten zweier Wendepunkte in Percival Everetts Meisterwerk Erschütterung markiert. Was wie ein sarkastischer Campus-Roman beginnt, kippt so jäh ins Tragische, dass es kaum auszuhalten ist. Auf einmal ist man als LeserIn ganz bei Zach, dem Antihelden, den man eben noch scheitern sehen wollte oder dem man wenigstens eine ordentliche Läuterung an den Hals gewünscht hat. Mit schmerzhafter Klarheit, aber ohne Pathos rückt Everett nun die Hilflosigkeit seines Protagonisten in den Fokus: Egal, was er tut, Zach kann Sarah nicht retten. Ihm und Meg bleibt nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, wie ihre Tochter Tag für Tag mehr verschwindet.

Aus Verzweiflung kapselt sich Zach immer weiter von seiner Familie ab. Mit der voranschreitenden Demenz seiner Tochter tritt an die Stelle tiefer Trauer jedoch Entschlossenheit: Als er im Kragen eines im Internet gekauften Hemdes einen eingenähten Hilferuf findet, der ihn auf die Spur entführter mexikanischer Frauen führt, trifft Zack nämlich eine riskante Entscheidung. Wenn er Sarah schon nicht retten kann, dann muss er eben jemand anderen retten, ganz gleich, ob aus Altruismus oder bloß für sich selbst. Anstatt seiner Frau Meg zur Seite zu stehen, bricht Zack ins Gebiet nahe der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze auf, um diese Frauen irgendwie zu retten – und plötzlich nimmt Percival Everetts Roman eine weitere überraschende Wendung.

Wozu sich festlegen?

Bei seinen Büchern weiß man nie, was einen erwartet: Vielleicht ist das neben dem trockenen Humor die größte Konstante im Schaffen von Percival Everett. Sein Literaturagent soll – so jedenfalls die Legende – ihn sogar schon einmal angefleht haben, sich als Autor doch bitte, bitte einmal zu wiederholen. Offenbar vergebens: Keiner der mehr als zwanzig Romane, die der 1956 geborene, preisgekrönte US-Autor und Englischprofessor bislang veröffentlicht hat, gleicht dem anderen. Im Falle von Telephone, so der Titel der für den Pulitzer-Preis nominierten Originalversion von Erschütterung, trifft Everetts Unberechenbarkeit sogar auf ein einzelnes Buch zu. Man munkelt, dass drei leicht abweichende Versionen des Romans existieren sollen …

Typisch für Percival Everett: Wozu sich festlegen? Einer wie er lässt sich halt nur ungern einordnen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Schwarze Schriftsteller selbst in den USA lange eher als Geheimtipp galt – eine Art Writer’s Writer, der vor allem von anderen AutorInnen geschätzt wird, aber nie den ganz großen Erfolg hatte. Trotzdem wächst seine Fangemeinde stetig, wie auch in Frankreich und Italien, wo Percival Everett längst als Kultautor gilt und bereits seit Jahren übersetzt wird. Anders in Deutschland: Hierzulande ist er fast noch ein Unbekannter; tatsächlich ist Erschütterung erst das vierte Buch, das ins Deutsche übertragen wurde.

Von der Westernparodie zum Neo-Western

Ein bemerkenswertes Beispiel für die literarische Spannbreite Everetts erschien bereits 2014 in der Weltlese-Reihe der Büchergilde: Herausgegeben von Ilija Trojanow, der Everett einmal als „literarischen Quentin Tarantino auf Speed“ bezeichnete, bildet der Roman God’s Country einen starken Kontrast zum bewegenden Erschütterung. God’s Country, ursprünglich im Jahr 1994 veröffentlicht, ist eine derbe Westernparodie, die das Spiel mit Genreklischees mit viel Witz auf die Spitze treibt Es ist alles da, was man aus alten Hollywoodschinken und Groschenromanen kennt: die Saloons und die Pistolenduelle, markige Cowboys und Native Americans, Bankräuber und Sheriffs, die ihnen mit dem Galgen drohen. Everetts Personal ist so überzeichnet wie in einer Kino-Groteske, sein Thema jedoch ein ernstes: Indem er dem moralisch verkommenen Ich-Erzähler Curt Marder den aufrechten und integren Schwarzen Fährtenleser Bubba an die Seite stellt, um gemeinsam Marders entführte Frau zu retten, stellt Everett im Laufe des Romans nicht nur den Rassismus seiner Hauptfigur und der damaligen Zeit bloß – er entlarvt auch den inhärenten Rassismus einer ganzen Gattung: Der klassische Western hat die US-amerikanische Kultur geprägt wie kein anderes Genre. Sein Narrativ ist, wie Everett zeigt, aber durch und durch von rassistischen Klischees geprägt, die bis heute in die Gesellschaft hineinwirken.

Obwohl Everetts trockener Witz auch im ungleich ernsteren Erschütterung durchscheint und beide Romane in eine waghalsige Rettungsmission münden, könnten sie kaum unterschiedlicher sein – dabei kommt Everett dem Western im letzten Drittel Erschütterung tatsächlich so nahe wie seit God Country nicht mehr. Als der trauernde Paläontologe Zach Wells im Grenzgebiet zu Mexiko das Fabrikgebäude entdeckt, in der US-amerikanische Neonazis ein gutes Dutzend entführter mexikanischer Frauen zur Arbeit zwingen, findet man sich als LeserIn plötzlich im Setting eines Neo-Westerns wieder und fühlt sich an die trostlosen Wüstenszenen hinter Albuquerque aus der Serie Breaking Bad oder an den Film No Country for Old Men von den Coen-Brüdern erinnert.

Eine Pointe, auf die nur einer wie Everett kommen kann

Mit diesem Bruch im Plot gelingt Everett ein wahres Kunststück: Ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wird der anfangs launige, später tieftraurige Roman auf einmal zu einem fesselnden Pageturner, in dem sich der Protagonist ernsthaft in Gefahr begibt. Zwar ist sich Zach im Klaren darüber, dass sein wahnwitziger Plan den Schmerz darüber, Sarah nicht retten zu können, niemals lindern kann, trotzdem sieht er keine Alternative: Er muss diesen Frauen helfen, um irgendjemanden – vielleicht sogar sich selbst – zu retten. Dass Zachs absurd riskante Mission zur Befreiung der Frauen dann ausgerechnet mithilfe eines Hobby-Dichterkreises gelingen könnte, ist eine Pointe, auf die vermutlich nur ein Autor wie Percival Everett kommen kann.

„Thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen“, heißt es in dem Zitat von Kierkegaard, das dem Roman nicht ohne Grund vorangestellt ist. Bei der Frage, ob man Percival Everetts Bücher lesen sollte, gilt allerdings das komplette Gegenteil. Es gibt nämlich zwei Arten von LeserInnen, stellte man in der Jury des US-amerikanischen National Book Critics Circle sehr treffend fest: Diejenigen, die Percival Everett lesen – und diejenigen, die etwas verpassen.

Percival Everett: Erschütterung. 288 Seiten. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien auch im Magazin 3/22 der Büchergilde, hier kostenlos als Download erhältlich.

„Mittnachtstraße“ erscheint im September!

Cover_Mittnachtstraße_Frank RudkoffskyKonfetti! Seit heute ist sie draußen, die Herbstvorschau meines Verlags Voland & Quist – und endlich darf ich euch mehr über meinen dritten Roman Mittnachtstraße erzählen, der im September erscheinen wird:

„Eigentlich zählte sich Malte immer zu den Guten. Nun aber hat sich der Familienvater selbst ins Exil verbannt und versteckt sich ausgerechnet an dem Ort, den er am meisten verachtet: im verwahrlosten Kleingarten seines eigenen Vaters. Der Job als Journalist hat ihn ausgebrannt, die Ehe steckt in einer Krise und sein Sohn schimpft ihn bloß noch einen Heuchler. Noch schwerer wiegt jedoch etwas anderes: Um sich vor der Verantwortung für seinen cholerischen, demenzkranken Vater zu drücken, hat Malte sich auf einen fragwürdigen Deal eingelassen – mit katastrophalen Folgen.

Ein Roman über das durchsickernde Gift toxischer Männlichkeit von einer Generation zur nächsten und einen Mann, der erst unter Schmerzen lernen muss, was es heißt, wirklich Verantwortung zu übernehmen – als Vater, als Partner, als Sohn.“

Und worum es wirklich, bringt vermutlich niemand besser auf den Punkt als meine Testleserin Mareike Fallwickl, deren tollen Blurb ich am liebsten einrahmen würde: „Frank Rudkoffsky ist ein Meister der Entlarvung. Vordergründig erzählt er von einer Familie und einer Kleingartensiedlung, in Wahrheit geht es um so viel mehr: toxische Männlichkeit und fragile Egos, Machtstrukturen und Seilschaften, die Implosion des Einzelnen und die Frage, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein. Ist das in Zeiten wie diesen überhaupt noch möglich? Ein herrlich bissiges, wütendes und kluges Buch, das aktueller nicht sein könnte. Lest es, wenn ihr mutig seid!

Danke fürs frühe Mitlesen, dein konstruktives Feedback und die lieben Worte, Mareike!

Aber weil ein Buch natürlich noch lange keinen Herbst macht, werft unbedingt auch einen Blick auf das tolle Programm, das Voland & Quist da mal wieder auf die Beine gestellt haben!

Geschafft!

ManuskriptFreude zu empfinden: Das ist dieser Tage gar nicht mal so einfach. Vielleicht spüre ich deshalb stattdessen gerade eher so etwas wie Erleichterung. Heute ist es genau ein Jahr her, seit ich die ersten Zeilen meines dritten Romans Mittnachtstraße schrieb. Es folgten ein langer Lockdown mit Schulschließung, mehrere Quarantänen, teils wiederholte Covid-Infektionen in der Familie – und dann ja auch noch diverse Schulferien und die ganz normalen Betreuungsausfälle, mit denen Eltern sich herumschlagen müssen. Keine einfachen Bedingungen, um einen Roman zu schreiben. Und trotzdem habe ich es geschafft: Vor zwei Tagen setzte ich das Wort Ende unter das Manuskript. Nun bin ich zwar nach einem Jahr voller Druck und Hindernisse bis auf auf die Knochen erschöpft, vor allem bin ich aber erleichtert – und ziemlich stolz. Darüber, dass ich es geschafft habe. Und noch viel mehr darüber, was ich da geschafft habe. Mittnachtstraße ist alles geworden, was ich mir von von dem Roman erhofft habe – aber darüber hinaus auch noch so viel mehr. Deshalb kann ich es kaum erwarten, euch bald mehr über das Buch zu erzählen. Und natürlich, dass ihr es lest: in diesem Herbst bei Voland & Quist!

Übrigens gab es dann am Tag der Fertigstellung dann doch noch einen Moment, in dem ich zumindest kurz die Weltlage vergessen und Freude empfinden konnte: Abends erreichte mich nämlich die Nachricht, dass der Förderkreis Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg meine Arbeit an Mittnachtstraße – die natürlich längst noch nicht zu Ende ist – mit einem Stipendium fördert!

Im Livestream und vor Ort in Stuttgart: Didi Drobna liest aus „Was bei uns bleibt“

Wirlphoto_Drobna_20210815_WEB-17Als wäre sie einfach aus der Geschichte getilgt worden: Nicht einmal eine Gedenktafel erinnert heute noch an die unterirdisch im Wald versteckte Munitionsfabrik im österreichischen Hirtenberg, in der Didi Drobnas Protagonistin Klara 1944 freiwillig den Dienst antritt. Zusammen mit hunderten anderer Frauen setzt sie dort bis kurz vor Kriegsende tagein, tagaus abertausende Zündkapseln für die Front zusammen – eine harte Arbeit, die Klara aber durchaus mit Stolz erfüllt. Das ändert sich erst, als gleich neben der Fabrik eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen errichtet wird. Den Arbeiterinnen werden nun Frauen aus dem KZ zugeteilt, mit denen – unter strenger, brutaler Aufsicht der SS – das gewaltige Pensum noch einmal drastisch erhöht werden soll. Dabei entstehen nicht nur Freundschaften, sondern erstmals auch Zweifel: am Endsieg, an den Klara und ihre Freundinnen lange glaubten. Vor allem aber daran, ob sie auf der richtigen Seite gestanden haben.

Lange hat Klara über die Jahre in Hirtenberg und ihre traumatischen Erlebnisse kurz vor Kriegsende geschwiegen. Nun aber, kurz vor ihrem Tod, kann die alte Frau ihre Erinnerungen nicht länger verdrängen. Bald hat sie keine andere Wahl mehr: Sie muss ihrem Enkel und Ziehsohn Luis erzählen, was damals geschah – und damit Licht auf ein fast vergessenes Kapitel der österreichischen Geschichte werfen.

Die österreichische Autorin Didi Drobna (Foto: Barbara Wirl) hat für ihren dritten Roman Was bei uns bleibt akribisch recherchiert, unter anderem sprach sie mit Zeitzeug*innen und suchte selbst im Hirtenberger Wald nach den Überresten der damaligen Fabrik. Es sind gerade die kleinen Details und lebendigen Eindrücke aus Klaras Arbeitsalltag, die Drobnas Roman so eindringlich und greifbar machen. Aber auch die Gegenwartskapitel um Klara als alte Frau sind weit mehr als bloße Rahmenhandlung: In ihnen spürt Drobna so subtil wie emphatisch den seelischen Verwüstungen des Krieges nach, die auch Generationen später noch Narben schlagen können.

Morgen Abend liest Didi Drobna um 19:30 in der Stuttgarter Stadtbibliothek aus „Was bei uns bleibt“ und wird darüber hinaus von ihren aufwändigen Recherchen zum Roman erzählen – und ich freue mich schon sehr darauf, den Abend moderieren zu dürfen. Weil wir zuhause gerade leider an diesem obskuren Familiendurchseuchungsprogramm der Bundesregierung teilnehmen müssen, werde ich selbst allerdings nur via Zoom zugeschaltet sein. Umso mehr hoffe ich auf viele Besucher*innen in der schönen Stadtbibliothek – blöd genug schließlich, dass Didi alleine auf der Bühne sitzen muss. Allen, die wie ich nicht vor Ort sein können, lege ich dagegen den Stream ans Herz: um 19:30 live auf YouTube!